Mehrsprachigkeit von Kindern : "Manche Sprachen werden als wertvoller betrachtet als andere"

May 12, 2023

Mehrsprachigkeit von Kindern: "Manche Sprachen werden als wertvoller betrachtet als andere"

Mehrsprachigkeit fasziniert viele Eltern – manche so sehr, dass sie sich für ihr Kind wünschen, es möge nicht nur seine Muttersprache fließend beherrschen. Anja Leist-Villis forscht und schreibt seit Jahren über Mehrsprachigkeit und wie sie gelingen kann. Im Gespräch erklärt sie, ob es sinnlos ist, wenn deutschsprachige Eltern mit ihrem kleinen Kind Englisch sprechen, und warum manche Menschen nur bestimmte Sprachen toll finden. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 18/2023.

ZEIT magazin ONLINE: Sie zitieren in Ihrem Buch eine griechische Mutter, die von einem Restaurantbesuch in Deutschland erzählt. Als der Sohn mit ihr Griechisch redet, sagt eine Frau vom Nachbartisch zu ihm: "Wir sind hier in Deutschland. Sprich Deutsch!" Auf der anderen Seite gibt es deutschsprachige Elternpaare, die sich sehr bemühen, einen Wochentag in der Woche mit ihrem Kind nur Französisch oder Englisch zu sprechen, um ihm möglichst früh eine weitere Sprache beizubringen. Wie passen diese gegensätzlichen Beobachtungen zusammen?

Anja Leist-Villis: Das hat viel mit dem Ansehen einer Sprache zu tun. Manche Sprachen werden als wertvoller betrachtet als andere. Englisch, Französisch, Spanisch oder gar Mandarin sind solche Sprachen mit hohem Prestige. Und gerade bei Englisch oder Französisch erinnern sich Eltern dann vielleicht auch daran, wie anstrengend es in der Schule war, eine neue Sprache zu lernen, und möchten es ihrem Kind leichter machen. Daneben gibt es jedoch auch Sprachen, die im Allgemeinen ein nicht so hohes Ansehen genießen.

ZEIT magazin ONLINE: In Deutschland könnte man dafür beispielhaft Türkisch, Arabisch oder Albanisch nennen.

Anja Leist-Villis: Ja, und wenn jemand in Deutschland sagt: "Ich will hier kein Arabisch hören", will er oder sie oft auch die Menschen selbst hier nicht haben. Beides hängt eng miteinander zusammen, und dann fallen Sätze wie: "Kann das Kind auch Deutsch?" Oder: "Was soll das Kind denn mit der Sprache?"

ZEIT magazin ONLINE: Ich lass den polemischen und rassistischen Unterton gerne weg und frage Sie als Wissenschaftlerin: Was hat das Kind von einer fremden Sprache?

Anja Leist-Villis:Im Fall von Englisch oder Französisch versprechen Eltern sich wohl vor allgemeinen Vorteil später in der Schule. Und natürlich ist es heutzutage einfach nützlich und wichtig, gute Englisch- und Französischkenntnisse zu haben. Grundsätzlich stellt aber jede Sprache, die in den ersten Lebensjahren insbesondere durch Muttersprachler zusätzlich vermittelt wird, einen Mehrwert für das Kind dar.

ZEIT magazin ONLINE: Welchen?

Anja Leist-Villis: Kinderentwickeln so überhaupt erst das Bewusstsein, dass es mehrere Sprachen gibt. Und Neugier. Wenn man Kinder fragen würde, würden sie vermutlich am liebsten beispielsweise Türkisch lernen, wenn in ihrer Kita oder Schule viele türkischsprachige Kinder sind. Denn so könnten sie mit ihnen auch in Türkisch kommunizieren.

ZEIT magazin ONLINE: Etwa jedes fünfte Kind unter 14 Jahren wächst heute in Deutschland mehrsprachig auf, etwa weil es in einer binationalen Familie oder in einer Familie nicht deutscher Herkunft lebt. Welche Chance oder welches Glück liegt für diese Kinder darin?

Anja Leist-Villis: Die Formulierung finde ich ein bisschen schwierig, weil es für diese Familien und Kinder etwas völlig Normales ist – weder Glück noch Pech, es ist einfach deren Realität. Wenn man nun von außen darauf guckt, kann man aber festhalten: In den ersten Lebensjahren lernen Kinder Sprachen, ohne sich bewusst bemühen oder anstrengen zu müssen. Später, im Fremdsprachenunterricht, müssen sie Vokabeln und Regeln lernen und diese einüben. Kleine Kinder lernen die Sprache unbewusst, intuitiv. Das ist tatsächlich ein Wunder, denn sie wenden schon grammatische Regeln an, obwohl sie ihrer kognitiven Entwicklung nach noch gar nicht in der Lage sind, zu abstrahieren. Und sie machen erstaunlich wenige Fehler dabei. Denn viele Fehler sind eigentlich gar keine. Wenn ein Kind sagt "Ich habe das aufgeesst", statt "aufgegessen", folgt es nämlich einer Regel: "kochen" > "gekocht", "malen" > "gemalt" und "essen" > "geesst". Diesen intuitiven Prozess zu nutzen, ist natürlich von Vorteil. Deswegen ist es immer gut, wenn der Spracherwerb so früh wie möglich einsetzt. Außerdem haben Kinder, die mit mehreren Sprachen aufwachsen, meistens ein höheres Sprachbewusstsein, was später dabei helfen kann, weitere Sprachen zu lernen.